Klinikschließungen trotz Corona

Ein Beitrag von Klaus Emmerich

Die täglichen Infektionszahlen in Deutschland sind alarmierend hoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die MinisterpräsidentInnen der Bundesländer verabschieden einen Teil-Lockdown – zunächst bis Ende November, Verlängerung wahrscheinlich. ExpertInnen warnen vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Trotz der Beschränkungen bleibt die Sorge, dass die Kapazitäten in den Krankenhäusern nicht ausreichen, um alle PatientInnen adäquat versorgen zu können. Das wäre fatal. Leben wären gefährdet. Deshalb auch die Notbremse: die Schließung der Restaurants, Kultureinrichtungen, das Runterfahren aller Freizeitangebote. Mit Recht kritisieren die Regierenden diejenigen, die sich den Regularien widersetzen. Der Tenor: Jeder habe die Verantwortung für sich und für das Leben anderer.

Jedes Krankenhaus in Deutschland wird jetzt gebraucht

Die Argumentationskette ist schlüssig: Jeder schränkt sein Leben massiv ein, trägt zur Senkung der Corona-Infektionsrate bei und schont so die Behandlungskapazitäten in Krankenhäusern. Alle KlinikmitarbeiterInnen, die bereits beim Lockdown im März und April bis an ihre physischen Grenzen und unter hohen Ansteckungsgefahren PatientInnen behandelt haben, werden auch jetzt wieder gebraucht: die »HeldInnen der Nation«. Aber ebenso brauchen wir auch jedes Krankenhaus in Deutschland.

Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung

Die meisten BundesbürgerInnen haben laut ARD-DeutschlandTrend Extra, Stand 7. November, die Botschaft verstanden. Danach geben 79 Prozent der Befragten an, dass ohne strengere Regeln die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen sei. 72 Prozent halten die aktuellen Regeln grundsätzlich für angemessen oder sogar für nicht weitreichend genug. Angesichts der einschneidenden Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte ist das ein Zeichen hohen Verantwortungsbewusstseins. Schließlich geht es um Schutz und Leben von Menschen.

Genau deshalb hat die Bevölkerung umgekehrt auch ein Anrecht auf verantwortungsbewusstes Handeln der Regierenden. Und ihre Vorstellungen sind laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage der Organisation Gemeingut in BürgerInnenhand klar formuliert: 96 Prozent der Befragten stellen die Patientenversorgung über die Wirtschaftlichkeit von Krankenhäusern. 88 Prozent der Bevölkerung sind gegen weitere Krankenhausschließungen in Deutschland.

Krankenhausschließungen trotz Corona

Das mehrheitliche Bekenntnis der BundesbürgerInnen zu ihren Krankenhäusern und zu ihren »HeldInnen der Nation« ist bitter nötig! Seit Jahrzehnten sind Personal und Krankenhausinfrastruktur von massiven Fehlentwicklungen betroffen. Gab es 1991 noch 2411 Krankenhäuser, so waren es 2018 nur noch 1925, ein Rückgang von immerhin 20 Prozent. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und viele MinisterpräsidentInnen setzen auf eine Zentralisierung der Klinikstandorte und unterstützen den Prozess durch ein systematisches gesundheitspolitisches Programm: Ein bundesweiter Strukturfonds fördert seit 2016 Betten- und Klinikschließungen im Umfang von aktuell bis zu 750 Millionen Euro jährlich. Länder wie Nordrhein-Westfalen sehen in ihrer Krankenhausplanung explizit Krankenhausschließungen vor. Niedersachsen plant sogar, Bürgerentscheide zu Standorten von Krankenhäusern zu verhindern (https://www.rundblick-niedersachsen.de/groko-will-keine-buergerentscheide-mehr-zu-krankenhaus-plaenen/).

Der Skandal: Daran ändert auch Corona nichts. Trotz der Ermahnungen der Bundeskanzlerin und des Bundesgesundheitsministers, alles Erdenkliche zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu unternehmen, geschieht das Unfassbare. Sie fördern weiter Krankenhausschließungen. Noch im September verabschiedete der Bundestag ein Krankenhauszukunftsgesetz, bei dem die Umwandlung von Zweibettzimmern in Einbettzimmern dann gefördert wird, wenn das betreffende Krankenhaus insgesamt mit weniger Klinikbetten auskommt.

Und die Förderungen zeigen Wirkung: Allein in Bayern wurden seit März dieses Jahres vier Krankenhäuser geschlossen: in Waldsassen, Vohenstrauß, Roding und Fürth; in ganz Deutschland sind es mindestens 14. Das ist ein untragbarer Zustand. Wer so handelt, gefährdet die Gesundheit der Bevölkerung und handelt grob fahrlässig. Die Regierenden in Bund und Bundesländern verletzen ihre Sorgfaltspflicht gegenüber der Bevölkerung und nehmen – auf Kosten des Gemeinwohls – einen Kollaps des Gesundheitswesens bewusst in Kauf.

Tragik und Gefahren

Bei all den dringenden Appellen um mehr Disziplin während der Pandemie scheint die Mehrheit der BürgerInnen den Prozess systematischen Kliniksterbens noch gar nicht registriert zu haben. Die Folgen aber sind fatal: Immer weniger Kliniken werden für eine adäquate klinische Versorgung zur Verfügung stehen. Bei Katastrophenfällen und Pandemien ist die klinische Versorgung akut gefährdet, weil Kapazitäten fehlen. Das wohnortnahe Krankenhaus hat keine Zukunft mehr. MitarbeiterInnen in Krankenhäusern werden systematisch bis zur Belastungsgrenze in Anspruch genommen. Sie bangen um ihren Standort und ihren Arbeitsplatz. Die »HeldInnen der Nation« fallen ökonomischen Fehlentscheidungen zum Opfer.

Demokratieverständnis

Laut einer Forsa-Umfrage des Katholischen Krankenhausverbandes vom Juli ist 93 Prozent der Befragten eine wohnortnahe Krankenhausversorgung wichtig oder sehr wichtig. Es ist Aufgabe und Verpflichtung der Regierenden, den Willen der BürgerInnen umzusetzen. Die wohnortnahe klinische Versorgung der Bevölkerung ist unverzichtbarer Bestandteil der Daseinsvorsorge. Wer das Votum missachtet, verletzt auch das Demokratieverständnis.

Klaus Emmerich befindet sich im Ruhestand. Er war bis zum 31. August 2020 Vorstand zweier kommunaler Kliniken in Bayern. Die Erstveröffentlichung des Beitrags erfolgte am 28. November 2020 in „Ossietzky“ (Heft 23/2020).

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