Rio plus 20 und Agenda21: zwanzig verlorene Jahre. Eine Zivilisationskrise?

07.06.2012. Von MBI-Mülheimer Bürgerinitiative.

Für den 20. bis 22. Juni haben die Vereinten Nationen zum Weltgipfel »Rio plus 20« geladen. In der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro soll wie schon 1992 über den Schutz der natürlichen Ressourcen bei gleichzeitigem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt diskutiert werden. Nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung sind Schlüsselbegriffe, ebenso wie die »Green Economy«. Die Regierungschefs dieser Welt kommen zu einem Umweltgipfel in Brasilien zusammen – zwanzig Jahre nach dem „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro 1992. Die Bilanz seit dieser Konferenz ist ernüchternd: Von einem Zeitalter nachhaltiger Entwicklung, das damals eingeläutet werden sollte und von fast 190 Nationen ratifiziert wurde, kann keine Rede sein.

Die Diskussion in den 70iger und 80iger Jahren über die Grenzen des Wachstums (Club of Rome, Bruntland-Report usw.) ist seit Mitte der 90er Jahre fast völlig verstummt. Auch die Rio-Konferenz 1992 mit der Agenda 21 und deren Kernforderung nach Nachhaltigkeit, d.h. Klima-, Umweltschutz und mehr Partizipation der Bevölkerung als überfällige Ziele wich schnell einem renditetrunkenen Kasinokapitalismus, der im folgenden global in über 1 Jahrzehnt sehr viel mehr verzehrte und zerstörte als in den gesamten 4 Jahrzehnten davor seit Kriegsende. Die fatalen 2 Regierungszeiten von Bush, aber auch die EU in ihrem Wahn aus Liberalisierung für die Wirtschaft, gepaart mit Überregulierung für die Bürger haben auch die gewachsenen Sozialstaaten in Europa aus den Fugen geraten lassen. Die sog. Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank brachten fast alle Länder in den globalen Sog der Spekulanten, teilweise mit verheerenden Folgen wie in den Kriegen etlicher afrik. Länder, den US-Ölkriegen oder den menschenverachtenden Erfolgsstories von Indien und China als aufstrebende Mächte. Auch die Umgestaltung Rußlands und anderer ex-Ostblockstaaten verlief eher nach den Regeln der Mafia mit brutaler Gewalt, hochgradig kriminell und für weite Bevölkerungsteile traumatisch. Vieles verlief eher apokalyptisch, von Ruanda, Liberia, Kongo usw. bis zur Beendigung des Tamilenkriegs in Sri Lanka oder der Dauertragödie in Haiti.

Und die alles beherrschende Ideologie hieß entgegen der Agenda 21 wieder Wachstum, Wachstum, Wachstum, egal wie und egal auf wessen Kosten. Selbst die größten Konzerne, von Enron bis Siemens, glänzten durch gefälschte Bilanzen und riesige Korruptionskassen, endlos faule Finanzprodukte ohne reale Gegenwerte erhitzten die gigantische Spekulationsblase fast ins Unbegreifliche, bis diese in 2008 platzte. Um den Totalcrash zu vermeiden,

Auch in den angeblich entwickelten und zivilisierten Ländern barbarisierte sich der Alltag für das Gros der Menschen, während die Herrschenden immer schamloser sich bzw. wenige andere und die Spekulanten bedienten. Eine kleine Kaste von Beratern, Gutachtern und Anwälten schwatzte den Entscheidungsträgern die unglaublichsten Modelle oder Projekte im Interesse von Spekulanten, equity fonds oder Konzernen auf. Die gewählten Volksvertreter nickten fast alles ab, selbst wenn sie es nicht durchblicken oder verstehen konnten, wie bei crossborder leasing, swaps oder PPP-Modellen mit “Forfaitierung und Einredeverzicht”. Mit Umwegfinanzierung und unseriöser Haushaltsführung konnten Ministerien und Landes- oder Stadtfürsten endlich wieder große Projekte präsentieren, ganz wie in den 60er und 70er Jahren. Und nahezu alle unterlagen der Versuchung: U-Bahnbau en gros, Kulturtempel deluxe, neue Rathäuser, Einkaufstempel oder Ruhrbanias von der Stange, also neue Luxus-Wohnviertel am Wasser (über 30 waren alleine im Ruhrgebiet geplant!). Filz, Korruption und Misswirtschaft wie in wüstesten Bananenrepubliken waren die Begleiterscheinungen, nicht nur bei der Köln-Messe, der Hamburger Elbphilarharmonie, dem World Trade Center Bonn, Ruhrbania in Mülheim, in Dresden, Duisburg, Dortmund, Stuttgart, Kaiserslautern, Braunschweig oder, und, oder ….
Auch die schon gestorbenen Wünsche der Generation der Macher von davor wurden wieder aufgelegt, von Transrapid bis zu gigantischen Autobahnbrücken wie im Elbtal, der Mittelmosel oder nahe der Loreley. Ebenso das versuchte Atomkraft-Revival gegen alle Erkenntnisse. Meeresüberfischung, rasantes Artensterben, dramatischer Gletscherrückgang, Naturkatastrophen im staccato fortissimo, Völkerwanderung in biblischem Ausmaße, einsetzende Kriege um das fundamentale Wasser, rasant fortschreitende Wüstenbildung, ebenso rasantes Waldsterben, atemberaubendes Artensterben u.v.v.m konnte die radikalen Modernisierer auf allen Ebenen nicht beirren.

Kurzum: Gegen alle Erkenntnisse bis zur Rio-Konferenz 1992 und entgegen der von über 180 Staaten ratifizierten Agenda 21 geschah danach das exakte Gegenteil. Und fast alle spielten mit, außer den Milliarden abgekoppelter Menschen weltweit, versteht sich. So kam es, dass die Diskussion sich pervertierte, von Agenda 21 zu Agenda 2010 oder gar zu Stuttgart21 u.ä.

  • Gigantomanie statt Nachhaltigkeit
  • Entscheidungen über den Köpfen der Menschen statt Partizipation
  • Kleptokratie und Gutachteritis statt Demokratie
  • Lobbyistentum und Immobilienspekulanten statt Gemeinnutz
  • zerstörerisch statt ökologisch
  • und finanziell ruinös

All das spüren oder wissen die Menschen spätestens, seit der ganze neoliberale Spuk mit seinen Heilsversprechen auch die stabilsten Mittelschichtsgesellschaften mit immer neuen Krisen überzieht. Ob sie das Steuer noch herumreißen wollen oder können, bleibt abzuwarten.

Ganz offensichtlich ist ein grundlegender Wandel „unseres“ Entwicklungsmodells vonnöten. Der wachstumsorientierte, ressourcen- und kohlenstoffintensive Entwicklungsweg der Industrieländer ist kein zukunftsfähiges Modell mehr, auch wenn ihn nahezu alle anderen Länder unhinterfragt nachahmen – allen voran China und andere Schwellenländer. Nicht „Einholen und Überholen“ darf die Maßgabe sein. Vielmehr muss sich die Weltgesellschaft grundlegend wandeln, indem sie dem Wachstumswahn abschwört, die Grenzen des Ressourcenverbrauchs und die Lebensrechte der belebten Mitwelt auf einem endlichen Planeten anerkennt, unseren ökologischen Fußabdruck auf ein entsprechendes Maß reduziert und weltweit angleicht sowie Wohlstand ohne Wachstum schafft.

Rio plus 20 bietet Anlass und Chance für ein globales Umsteuern und einen Ausweg aus einer Zivilisationskrise, derer sich immer mehr Menschen bewusst werden. Dazu bedarf es einer handlungsleitenden Ethik des rechten Maßes, sozialer Gerechtigkeit, politischer Vision und technologischer Innovation. Die globale Transformation braucht Vorreiter, unter den Ländern wie in den Gesellschaften. Dieser Aufgabe müssen und werden sich alle stellen müssen: Die gesamte Politik auf allen Ebenen und die gesamte Gesellschaft – nicht zuletzt auch durch nachhaltiges Handeln im alltäglichen Leben.

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