Gastbeitrag von Peter Lessmann-Kieseyer, Köln
Eine stabile Gesundheitsversorgung in peripheren Regionen wird durch die Schließung von Krankenhäusern zunehmend bedroht. Die Einführung eines Abrechnungssystems nach so genannten Fallpauschalen hat Kliniken in einen verstärkten Wettbewerb zueinander getrieben. Häuser müssen schließen, werden zentralisiert und zusammengelegt. Konsequenz: Es drohen Engpässe in der Daseinsvorsorge. Angesichts dieser Lage wird der zusätzliche Einsatz von Rettungshubschraubern und Multikoptern als ein Instrument gesehen, um Versorgungsdefizite zu beheben. Zu Recht?
Es gilt als weitgehend unstrittig, dass die staatlich gewollte Konzentration der Krankenhausversorgung der Tendenz nach zu Lücken der Daseinsvorsorge in der Fläche führt. Viele Politiker und Gesundheitsökonomen erheben Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Leistungsfähigkeit zur obersten Handlungsmaxime bei Organisation und Betrieb einer Klinik. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zur Zukunftsfähigkeit der Krankenhäuser von 2019 hält wegen Überkapazitäten und Ineffizienzen einen Abbau von vollstationären Kliniken auf ca. ein Drittel der heutigen Kapazitäten (laut Bertelsmann Stiftung 1400 Häuser) für möglich und wirtschaftlich sinnvoll. Leidtragende sind jene Menschen, die sich nunmehr um ihr Krankenhaus als Ankerpunkt der Gesundheitsversorgung vor Ort beraubt sehen.
Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass in der Debatte um die Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge neben dem verstärkten Einsatz von unter anderem Notfallsanitätern und der Telemedizin auch die Nutzung von Hubschraubern und bemannten Drohnen (Multikopter) in der Luftrettung als zusätzliche Maßnahme beim Aufbau einer „schlanken“ und „effizienten“ Krankenhauslandschaft ins Spiel gebracht wird. Mit einer weiteren Professionalisierung der Rettungskette auf allen Ebenen und der Ausweitung ihrer Aufgaben, so die Argumente, können im Hinblick auf die Notfallversorgung in Regionen Mindesterreichbarkeiten eingehalten und eine „möglichst hochwertige Versorgung auch ohne ein vollwertiges Leistungsangebot im näheren Umkreis“1 geboten werden.
Diese Perspektiven, eine um die Notfalllogistik herum ergänzte Gesundheitsversorgung in einer um Kliniken „bereinigten“ Fläche zu bieten und alle Elemente stärker miteinander zu verzahnen (Luftrettung, Feuerwehr, Rettungs- und Notarztwagen), haben die Hersteller von Luftfahrzeugen auf den Plan gerufen. Während die bisherige Notfallrettung aus der Luft (u.a. Unfälle, Katastrophen, Brände) auf den Einsatz von Hubschraubern als Zubringer von Notärzten und Sanitätern sowie dem Abtransport von Schwerverletzten beschränkt blieb, finden die neuesten Errungenschaften aus der Drohnen-Technologie und ihre mögliche Anwendung für einen exklusiven Club privater Nutzer (Flugtaxis) nunmehr in der Luftrettung ein willkommenes Experimentierfeld zur Erprobung und Durchsetzung privater Geschäftsmodelle.
So sicherte sich zur Freude des Luftfahrzeugherstellers Volocopter die ADAC-Luftrettung im Dezember vergangenen Jahres zwei Multikopter vom Typ VoloCity bei dem Unternehmen aus dem baden-württembergischen Bruchsal. Bislang gibt es zwar kaum praktische Erfahrungen mit diesen elektrisch betriebenen Senkrechtstartern, doch Volocopter zeigte sich in einer Pressemitteilung höchst zufrieden: „Mit der Reservierung ihrer ersten beiden Volocitys setzt die ADAC Luftrettung ein klares Zeichen des Vertrauens in unsere Fähigkeit, unsere Multikopter-Technologie an den Markt zu bringen.“ Zuversicht herrscht auch beim ADAC ob der Chancen und flexiblen Einsatzmöglichkeiten der neuen Fluggeräte – nämlich: angesichts des drohenden Verkehrsinfarkts auf den Straßen, des Mangels an Notärzten und der strukturellen Änderungen in der Krankenhauslandschaft die notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung durch ein flexibles System zu verbessern.
Doch ist eine um technisches Gerät ertüchtigte Luftrettung geeignet, diese Ansprüche zu erfüllen? Zumal derzeit unklar bleibt, ob sich Multikopter für Rettungsdienste mit ihren eingeschränkten Einsatzmöglichkeiten überhaupt eignen. Aber auch eine Ausweitung der Hubschrauberflotte und -standorte lässt sich wegen hoher Kosten, einer zeitaufwändigen Planungsperiode und möglicher Widerstände in der Bevölkerung keineswegs problemlos umsetzen. Somit erscheint zumindest fragwürdig, dass Fluggeräte der Notrettung das löchrige Netz in der Daseinsvorsoge stopfen können. Dies gilt erst recht für Multikopter, deren Einsatzfähigkeit erst noch erprobt werden muss. Bleiben solche Optionen am Ende dann doch eher nur ein fades Lückenbüßer-Argument, technische Spielereien oder nur eine Maßnahme zu Beschwichtigung besorgter Bürger*innen in den betroffenen Regionen?
Luftrettung in Deutschland – ein Herzstück der Notfallmedizin
Über viele Jahre hat sich die Luftrettung zusammen mit einem weit verzweigten Netz von Notarzteinsatzfahrzeugen (NEF), Rettungswagen (RTW) und Feuerwehr am Boden bundesweit als fester Bestandteil der medizinischen Notfallversorgung etabliert. Sie markiert eine wichtige Säule in einem Rettungssystem für Menschen in lebensbedrohlichen Lagen. Rettungsdienste können mithin als ein den Krankenhäusern vorgelagertes Netz der Daseinsvorsorge begriffen werden.
Doch das bodengebundene Netzwerk gerät durch das wachsende Verkehrsvolumen und höhere Bindungszeiten der Rettungsfahrzeuge durch längere Wege zum Krankenhaus an seine Grenzen. Kurze Fahrzeiten und die Verfügbarkeiten von Notärzten erweisen sich immer mehr als Engpassfaktor.
Statistiken belegen, dass sich in den vergangenen Jahren die Anfahrzeiten der NEF zum Einsatzort kontinuierlich verlängert haben. In einer 2020 veröffentlichten Machbarkeitsstudie der ADAC Luftrettung zur Einführbarkeit von Multikoptern wird eine um 40 Prozent verlängerte Eintreffzeit von Notärzten am Einsatzort in den vergangenen 20 Jahren genannt. Für Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg hatte der SWR 2019 umfangreiche Daten ausgewertet und festgestellt: „Zu oft braucht der Rettungswagen zu lange zum Einsatzort“. Viele Gemeinden seien in der Notfallmedizin unterversorgt. Eine Entspannung ist kurzfristig nicht in Sicht, weil eine radikale Umsteuerung der Verkehrspolitik fehlt. So wird die Verkehrsdichte weiter zunehmen und die Notfallrettung beeinträchtigen. Das erhöht den Druck auf die Luftrettung, ihre Dienste auszubauen und durch neue Konzepte und Systeme zu ergänzen.
Die Lage
Derzeit gibt es in Deutschland in der Luftrettung rund 90 Stationen und etwa 100 Hubschrauber zur Notrettung (RTH, Rettungstransporthubschrauber und ITH, Intensiv-Transport-Hubschrauber). Davon ist allerdings nur ein Fünftel nachtflugtauglich. Die Standorte verteilen sich mehr oder weniger flächendeckend über die gesamte Republik – von Niebüll im Norden bis Friedrichshafen im Süden, von Würselen/Aachen im Westen bis Bautzen im Osten Deutschlands. Wo welcher Standort entsteht, entscheiden die Länder, in deren Zuständigkeit die Luftrettung liegt; sie überprüfen regelmäßig wie unlängst in einer Bedarfsanalyse in Baden-Württemberg2 geschehen, ob Anpassungen erforderlich sind.
Der Neubau einer Station im Zuge einer Verlegung kann für die Kommunen oder ein Land sehr teuer werden: Welche Hindernisse entstehen, zeigt die über viele Jahre geplante Verlegung des Rettungshubschrauberstandortes von seiner Interims-Station auf dem Köln/Bonner Flughafen auf den Kölner Kalkberg, eine ehemalige Mülldeponie. Die ursprünglich angesetzten Baukosten von rund 10 Millionen Euro erhöhten sich bis zur endgültigen Absage auf mehr als 30 Millionen Euro.
Auch wenn dieser Fall sicherlich eine Ausnahme darstellt, müssen sich alle Beteiligten auf längere Zeiträume bis zur Realisierung solcher Vorhaben einstellen. So dauerten Planung und Bau einer neuen Station für den an der Diakonie Klinikum Jung-Stilling in Siegen angebunden ADAC-Helikopters insgesamt 10 Jahre, bei Kosten in Höhe von 6,5 Millionen Euro.
In Baden-Württemberg hat die oben erwähnte Bedarfsanalyse eine breite Diskussion über die empfohlene Verlegung von mehreren Standorten (Leonberg nach Tübingen, Freiburg nach Südosten Richtung Kirchzarten/Todtnau, Friedrichshafen weiter nördlich in den Kreis Ravensburg) und den Bau von zwei weiteren Hubschrauberstandorten im Land entfacht. Der Ausgang ist derzeit unklar und die politischen und rechtlichen Abstimmungsprozesse sind kompliziert. Eine mögliche Verlegung des in Friedrichshafen am Bodensee stationierten Hubschraubers hat das dortige Krankenhaus veranlasst, eine Petition gegen diese Pläne aufzusetzen. Es wird befürchtet, dass bei einer Verlegung des Standortes die Notfallmedizin abzieht und das Krankenhaus selbst geschlossen werden könnte.
Hubschrauberstationen sind in der Regel so ausgelegt, dass ein RTH in einem Radius von 50 bis 70 km um seinen Standort jeden Ort erreichen kann und zwar innerhalb von maximal 20 Minuten. Doch die Einhaltung von so genannten Hilfsfristen, die von den Ländern zum Teil unterschiedlich festgelegt werden, können immer öfters nicht eingehalten werden. Dabei können Einsätze besonders bei Tracer-Diagnosen (Herzinfarkt, Schlaganfall) zeitkritisch sein, sowohl bei der medizinischen Erstversorgung wie auch für einen schnellen Transport ins Krankenhaus. Vom Eingang des Notrufs bis zum Eintreffen des Patienten im Krankenhaus sollen in der Luftrettung nicht mehr als 60 Minuten vergehen. Um diese Zielgrößen zu erreichen, sind immer wieder Anpassungen an neue Gegebenheiten erforderlich, wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt.
Getragen wird die Luftrettung in Deutschland im Wesentlichen von der ADAC Deutsche Luftrettung und der DRF Luftrettung, ehemals Deutsche Rettungs-Flugwacht. 2019 stiegen die Piloten des ADAC an jedem Tag 150 Mal in die Luft, bei der DRF waren es im Schnitt rund 100 Einsätze pro Tag. Rettungshubschrauber stellen darüber hinaus auch das Bundesinnenministerium, die Bundeswehr und der Unfall-Rettungsdienst der Johanniter. Tagsüber decke das Luftrettungsnetz die gesamte Bundesrepublik flächendeckend ab, sagt eine Sprecherin der DRF.
Die Kosten der Luftrettung sind hoch. Neben den Anschaffungspreisen für Hubschrauber, die je nach notfall- und intensivmedizinischer Ausrüstung zwischen 6 und 10 Millionen Euro (Helikopter am Typ H13, H145) kosten können, schlagen vor allem die Einsätze zu Buche. Der Transport von Patienten mit einem Rettungshubschrauber gehört zu teuersten in der gesamten Rettungskette. Je nach Dauer können sich die Kosten nur eines Einsatzes auf mehrere Tausend Euro belaufen. Bei der DRF liegt der Minutenpreis zwischen 70 Euro und 90 Euro.
Die Krankenkassen übernehmen in der Regel alle Kosten eines medizinischen notwendigen Einsatzes. Schwieriger wird es bei selbst verschuldeten Notlagen. Aber auch die Frage einer Kostenübernahme im Fall des Einsatzes von Rettungshubschraubern in der Fläche zur Aufrechterhaltung der akut-medizinischen Grundversorgung ist ungeklärt und würde vermutlich die verfügbaren Ressourcen der Krankenkassen sprengen. Dass die hohen Kosten der Luftrettung in Kauf genommen werden, hat nach Einschätzung des Fachmagazins für Rettungshubschrauber rht.info darin seinen Grund, dass sie allein schon durch die Tatsache der ständigen Abrufbereitschaft ihrer Leistungen einen Mehrwert erbringe. Dies finde in der Bevölkerung allgemein eine hohe Akzeptanz, weil sie psychologisch für ein hohes Sicherheitsgefühl sorge.
Neue Aufgaben für Helikopter oder Multikopter in der Daseinsvorsorge?
Dieses Sicherheitsgefühl wird unterdessen an anderer Stelle unterhöhlt, nämlich dort, wo Klinikschließungen eine nachhaltige medizinische Versorgung vor Ort nicht mehr garantieren können. Der Protest und die Widerstände vor allem von betroffenen Bewohner*innen und vom Klinikpersonal gegen Schließungen, die Ausgliederung von Fachabteilungen oder die Aufgabe einer stationären Versorgung, liefern hierfür Beispiele. Kritik entsteht vor allem dann, wenn die Notfallversorgung leidet und längere Anfahrtswege zu den nächst-gelegenen Krankenhäusern entstehen.
In einer Untersuchung des Braunschweiger Johann Heinrich von Thünen-Instituts über die Gestaltung der Daseinsvorsorge stellen die Autor*innen nüchtern fest: „Wenn es nicht möglich ist, die Versorgung zu den Menschen zu bringen, werden durch den Wegfall der fußläufigen Erreichbarkeit im Zug der Ausdünnung von Versorgungseinrichtungen immobile Bevölkerungsgruppen wie Senioren ohne Auto und mit gesundheitlichen Einschränkungen weiter benachteiligt3“. Daseinsvorsorge in der Gesundheit bedeutet mehr als nur Notfallversorgung. Es geht um die staatliche Garantie einer wohnortnahen Grundversorgung. Dies wird durch die bereits beschriebenen Prozesse der Zentralisierung und Klinikschließungen aber immer schwieriger.
Das hat auch die DRF erkannt: „Die bundesweite Spezialisierung von Krankenhäusern auf bestimmte Krankheitsbilder wirkt sich auf den Bedarf von (Rettungs-) Einsätzen aus: Der Weg in die optimal geeignete Klinik wird gegebenenfalls für die Patienten weiter“, teilt Rettungsdienst auf Nachfrage mit. Und die Ärztezeitung schrieb bereits vor einigen Jahren: Die großen Betreiber der Luftrettung rechneten damit, dass ihre Rettungshubschrauber künftig nicht mehr überwiegend komplexe Notfallsituationen, sondern zunehmend auch eine akutmedizinische Grundversorgung mit übernehmen müssen. Durch die Spezialisierung und Zusammenschlüsse von Kliniken „verlängert sich im Notfall der Weg in die passende Zielklinik“4.
Der Multikopter
Die Schwächen der Gesundheitsversorgung in der Fläche hoffen Betreiber der Luftrettungsdienste wie der ADAC künftig unter anderem durch den Einsatz von Multikoptern abmildern zu können. Diese bemannten Drohnen, mit welchen die Hersteller vor allem den Zukunftsmarkt Flugtaxis im Fokus haben, sind kaum vergleichbar mit Hubschraubern. Die elektrisch angetriebenen Flugeräte – so genannte eVTOLs (electric Vertical Take-Off an Landing) – gelten als technisch weniger anspruchsvoll und flexibler im Einsatz – theoretisch jedenfalls. Das heißt jedoch keineswegs, dass sie den klassischen Hubschraubern überlegen sind.
Ihr größtes Manko: Wegen der geringen Transportlast (maximal 2 Personen) sind die Multikopter zunächst nur als Zubringerdienst von Notärzten gedacht. Zur medizinischen Ausrüstung gehört nicht mehr als ein leichter Notarztkoffer. Am Einsatzort müssen Patienten gegebenenfalls auf den Abtransport durch bodengebundene RTW warten. Ihre Befürworter sehen dennoch Vorteile: In einem Radius von 25-30 Kilometer könnten sie gegenüber Hubschraubern ihre Vorteile als Zubringer voll ausspielen, nämlich schneller am Einsatzort zu sein, um die Erstversorgung zu übernehmen. Schon heute kämen Rettungshubschrauber in nicht wenigen Fällen nur als Zubringer von Notärzten zum Einsatz, heißt es. Selbst über den reinen Notfall hinaus könnten diese neuen Luftfahrzeuge mit dazu beitragen, die Patienten in regionalen Peripherien besser zu versorgen.
Multikopter seien deshalb eine „sinnvolle Ergänzung des bestehenden Rettungssystems5, sie sollen das Gesamtsystem optimieren und keineswegs Hubschrauber und bodengebundene NEF ersetzen, heißt es in der bereits erwähnten ADAC-Studie, die in Deutschland das Potenzial von Multikopter-Standorten auf 250 bis zum Jahr 2050 veranschlagt. Das wäre fast das Dreifache der heutigen Anzahl von Helikopter-Stationen. Auch die DRF ist davon überzeugt, dass bei der Rettung von Menschenleben technologische Fortschritte eine entscheidende Rolle spielen können.
Andererseits, es ist derzeit schwer vorstellbar, dass sich Drohnen angesichts der erheblichen wirtschaftlichen Risiken und Kosten, des Aufbaus von Stationen und ungelöster Fragen der Einbindung in das Luftrecht mittel- bis langfristig für die Notrettung einsatzfähig sind. Es werden vermutlich Jahre oder Jahrzehnte vergehen, wenn überhaupt, bis ein regelmäßiger Betrieb aufgenommen werden kann. Inzwischen sind nach anfänglicher Euphorie auch manche Entwickler kleinlaut geworden. Anbieter haben erkennen müssen, dass sich ihre Ideen nicht so einfach realisieren lassen, stellte das Handelsblatt in einem Bericht über Flugtaxis schon vor fast zwei Jahren fest.
So bleiben Fahrzeuge der Luftrettung vermutlich doch eher das, was sie sind: ausschließlich Hilfsmittel für den Einsatz in lebensbedrohlichen Lagen. Dabei werden Hubschrauber noch über viele Jahre das erste Mittel der Wahl sein. Doch ihr Spielraum zur Übernahme ergänzender Aufgaben in der Daseinsvorsorge, zeigen auch die folgenden Beispiele, ist begrenzt – und bei Multikoptern gibt es bislang nur vage Szenarien. Die medizinischen Versorgungslücken aber sind real und müssen heute behoben werden.
Schließung der Loreley-Kliniken St Goar/Oberwesel
Am 30. September 2020 wurden die Loreley-Kliniken St. Goar/Oberwesel geschlossen. Zuvor war die Suche nach einem Nachfolger für den Betreiber Marienhaus GmbH erfolglos geblieben. Der stationäre Betrieb mit zuletzt zirka 170 Betten hinterlässt nun eine Lücke in der Grund- und Regelversorgung am Mittelrhein. Nach Angaben des Gesundheitscampus in Oberwesel müssen rund 4.500 Menschen jährlich für eine vollstationäre Versorgung die umliegenden Krankenhäuser aufsuchen. Das sind die Klinik in Boppard (Gemeinschaftsklinik Mittelrhein) oder Bingen (Heilig-Geist-Hospital). Die Fahrzeiten dorthin betragen bei staufreiem Verkehr zwischen 30 und 40 Minuten.
Schneller erreichbar sind die Krankenhäuser in der Regel per Rettungshubschrauber; in Frage kommen dabei im Prinzip nur die in Koblenz und Mainz stationierten Fluggeräte, die etwa 10-15 Minuten bis zu einem Einsatzort um St. Goar/Oberwesel benötigen. Bis ein Patient das Krankenhaus erreicht, dürften je nach Dauer der Erstversorgung vor Ort weitere 15 – 20 Minuten vergehen. Für die betroffenen Menschen ist der Zeitverzug jedoch kaum hinnehmbar – zumal immer fraglich bleibt, ob Hubschrauber und/oder mitfliegenden Notärzte zu einer Zeit x nicht anderweitig gebunden sind. Allein schon aus diesem Grund kann ein Hubschrauber selbst bei kürzerer Anflugdauer zum Einsatzort den Faktor Ortsnähe zum Krankenhaus kaum ersetzen. Außerdem können viele Hubschrauber in der Nacht und bei schlechten Wetterbedingungen nicht fliegen.
Ohnehin scheidet der Einsatz von Hubschraubern als „normales“ Transportmittel bei nicht lebensnotwendigen Einsätzen schon aus Kostengründen aus. Das gilt auch für eine systematische Verdichtung der Hubschrauberstationen in der Fläche (siehe oben). Neue und günstiger gelegene Standorte bringen bei den genannten Eintreffzeiten in St. Goar/Oberwesel kaum Vorteile. Die beiden Standorte Koblenz und Mainz liegen nur knapp 20 Minuten Flugzeit auseinander.
Der Wegfall eines Krankenhauses hat nun umgekehrt die Folge, dass die Luftrettung, aber auch die bodengebundenen NEF, durch Fahrten nach Boppard oder Bingen für längere Zeit gebunden und vorübergehend nicht einsatzbereit oder abrufbar wären. Was tun, wenn ein weiterer Notfall anliegt? Ob hier ein Multikopter bessere Dienste leisten und einspringen könnte, ist die Frage. Möglich, dass ein Notarzt schneller zur Stelle ist, aber auf ein Rettungsfahrzeug, das den Verletzten abtransportiert und ins Krankenhaus bringt muss dennoch gewartet werden.
Schließung Krankenhaus von Havelberg in Sachsen-Anhalt
Ebenfalls im September vergangenen Jahres geschlossen wurde das Krankenhaus im sachsen-anhaltinischen Havelberg. Ein mehrjähriges Tauziehen um die Zukunft der Klinik, die 2002 privatisiert worden war und seitdem von dem Gesundheitsunternehmen KMG geführt wurde, ließ sich aus Sicht des Betreibers wirtschaftlich nicht mehr aufrechterhalten. „Hier in der Region gibt es einen richtigen Kahlschlag“, fasst Holger Schulz, Vorsitzender des Vereins Pro Krankenhaus Havelberg mit Blick auf andere Häuser in der Region die derzeitige Versorgungslage zusammen. So machte das Johanniter-Krankenhaus in Genthin bereits 2017 dicht.
Er schätzt, dass durch die Schließung der Klinik in Havelberg 15.000 bis 20.000 Menschen im größeren Umkreis betroffen sind. Das Krankenhaus sei sehr beliebt gewesen und jetzt müssten die Bewohner entweder den Weg nach Stendal, Kyritz oder nach Perleberg antreten. Die Fahrzeit mit Auto beträgt hier – vorausgesetzt staufrei – zwischen 35 und 40 Minuten. Und wer kein Fahrzeug besitzt, ist auf noch längere Zeiten im Nahverkehr oder auf teure Taxis angewiesen.
Auch über den Einsatz von Rettungshubschraubern wurde im Zusammenhang der entstandenen Versorgungslücken durch die Krankenhausschließung debattiert. Denn die beiden sachsen-anhaltinischen Stationen in Magdeburg und Halle benötigen bis zum Eintreffen in Havelberg über 20 Minuten und mehr. Nur die ADAC-Station in Perleberg in Brandenburg schafft den Anflug in rund 10 Minuten. Zur Diskussion steht darüber hinaus noch der Neubau einer Hubschrauberstation der Johanniter in Stendal, die dort ein großes Krankenhaus betreiben. Dieser Standort soll mehr Sicherheit in die Region bringen. Eine mögliche Stationierung am örtlichen Regionalflughafen ist zwar noch nicht vom Tisch. Doch der Ausgang ist vor allem wegen Finanzierungsfragen ungewiss.
Wie in anderen schlecht versorgten ländlichen Regionen, bleibt auch bei den Menschen in Havelberg die Ungewissheit, ob ein Rettungshubschrauber einsatzbereit ist und rechtzeitig eintrifft. Erschwerend kommt hinzu: Da nur die Rettungshubschrauber aus Berlin oder Halle nachtflugtauglich sind, kann Havelberg in dieser Zeit nur von dort aus angeflogen werden – mit Flugzeiten von mehr als 40 beziehungsweise von rund 30 Minuten.
Von diesen Gedankenspielen hält Schulz nicht viel: Die Hubschrauber-Option Stendal, sei aus der Not geboren worden, sagt er. Früher hätten Patienten bei Erkrankungen und weniger gravierenden Unfällen schnell das örtliche Krankenhaus Havelberg aufsuchen können. Und heute? – ein Hubschraubereinsatz bei einem Beinbruch? Das bringe doch nichts und sei ein Riesenaufwand, beteuert er. „Das Krankenhaus vor Ort sei unersetzbar und gibt den Menschen Sicherheit“.
1 Vgl. Stefan Loos, Martin Albrecht, Karsten Zich, Zukunftsfähige Krankhausversorgung, Simulation und Analyse einer Neustrukturierung der Krankenhausversorgung am Beispiel einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen; Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019, S. 84
2 Vgl. Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) Klinikum der Universität München, Struktur- und Bedarfsanalyse der Luftrettung in Baden-Württemberg, München Mai 2020
3 Annett Steinführer, Patrick Küpper, Alexandra Teutz, Gestaltung der Daseinsvorsorge in alternden und schrumpfenden Gemeinden, Braunschweig 2012
4 ÄrzteZeitung: Im Einsatz gegen die Zeit, Neu-Isenburg, 16.05.2014
5 Vgl. ADAC-Luftrettung: Machbarkeitsstudie Multikopter, München Oktober 2020, S. 19