Die Lobby für flächendeckende Klinikschließungen argumentiert vordergründig im Sinne der Menschen, auf den zweiten Blick jedoch zynisch und menschenfeindlich. Am 1. September hatte das Bündnis Klinikrettung daher einen prominenten Schließungslobbyisten, Prof. Dr. med. Reinhard Busse, zum Streitgespräch eingeladen. Das Bündnis in der Diskussion wurde vom ehemaligen Klinikleiter Klaus Emmerich vertreten. In der Veranstaltung traten die Widersprüche zwischen Patientenwohl und Investoreninteressen besonders deutlich hervor. Nachfolgend ein Kommentar von Carl Waßmuth zu zentralen Aussagen der Schließungslobby:
>>Moderne Medizin benötigt moderne Kliniken<<
Was als moderne Medizin bezeichnet wird, ist oft auch im Wortsinn eine Mode und keineswegs eine Verbesserung. Der zunehmende Einsatz von Robotik zum Beispiel bei den Essensauslieferungen führt schon heute dazu, dass zuweilen der Überblick verloren geht, welcher Patient was gegessen hat oder ob überhaupt ausreichend gegessen wurde. Der verwendete Modernitätsbegriff ist eine Schutzbehauptung für brachiale Veränderungen zugunsten (privater) Dritter. Die Großklinik hat nicht nur in Sachen Infektionsschutz Nachteile, und sie ist mitnichten die evolutionäre Spitze der Krankenhausentwicklung.
>>Klinikschließungen sind eine Form schöpferischer Zerstörung<<
Hier wird ein (sprachliches) Bild aus dem Bereich der Kunstschaffenden verwendet. Der Bildhauer zerstört den groben Fels und arbeitet etwas Feineres, Schöneres heraus. Der Maler durchbricht die Konventionen, die seine Verwirklichungsmöglichkeiten beschränkt haben, und findet zu neuem, stärkerem Ausdruck. Der Vergleich mit menschlichen Schöpfungen weist jedoch nur wenige Ähnlichkeiten zu den geplanten flächendeckenden Schließungen und den sich seit Jahren vollziehenden Schließungsprozessen infolge lokaler Finanznot auf. Es wäre nicht kreativ, zuzulassen, dass jedes Jahr tausende KünstlerInnen ihren Beruf weit vor Erreichen der Rente aufgeben müssen, weil ihnen das Geld zum Überleben ausgeht. Wer malt, zerstört auch nicht sein Atelier „um etwas Neues zu schöpfen“. Und es hat erst recht nichts Schöpferisches, die Ateliers von 40 oder gar 75 Prozent aller KünstlerInnen im ganzen Land zu vernichten.
>>Qualität von Eingriffen, die oft vorgenommen werden, sprechen für eine Klinikkonzentration<<
Nur für wenige spezifische Eingriffe belegen Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen Häufigkeit und Erfolg. Werden andere Diagnosen und Therapien nicht beeinflusst, spricht nichts dagegen, diese Eingriffe an bestimmten Standorten zu konzentrieren. In den meisten Fällen werden jedoch andere Aufgaben massiv beeinflusst. Es darf jedoch keine Erkrankungen zweiter Klasse geben. Herzinfarkte sind nicht mehr wert als entgleiste (diabetische) Stoffwechsellagen, Lungenentzündungen oder Sepsen. ÄrztInnen und Pflegepersonal bedürfen einer breiten Ausbildung. Eine zielgenaue Diagnostik und Therapie wird besser, wenn die Beschäftigten mit vielen verschiedenen Erkrankungen im beruflichen Alltag konfrontiert werden. Jeder Gehirnchirurg schneidet irgendwann zum ersten Mal einen Schädel auf, und vermutlich sind zu diesem Zeitpunkt die Erfahrungen und somit auch die Erfolgsaussichten geringer als beim hundertsten Mal. Dass dasselbe auch für Abteilungen und Kliniken im ständigen Weiterbildungsprozess gilt, kommt in der Konzentrationsideologie nicht vor. Dazu kommt, dass den so häufig zitierten Eingriffen mit mengenabhängigen Erfolgsaussichten die Vor- und Nachgeschichte fehlt. Handelt es sich um eine schwere Einzelerkrankung, oder wurde sie bei gleichzeitiger Multimorbidität diagnostiziert? Für mehrdimensionale, interdisziplinäre Diagnosen ist es notwendig, dass Mediziner Kenntnisse und Erfahrungen in mehr als einem Fachbereich haben, eine Fähigkeit, die zwingend in einzelnen Bereichen mit (teilweise) geringeren Fallzahlen einhergeht und dennoch letztlich dem Patientenwohl dient.
>>Die deutsche Krankenhauslandschaft hat erhebliche Überkapazitäten, die durchschnittliche Auslastung liegt nur bei 75 Prozent<<
Die Summe der Krankenhäuser in Deutschland bildet zusammen mit weiteren Gesundheitseinrichtungen eine Infrastruktur der Daseinsvorsorge. Keine Infrastruktur auf der Welt wird nach der durchschnittlichen Auslastung ausgelegt. Entscheidend ist generell die maximale Auslastung. Sie wird im Bereich der Daseinsvorsorge immer durch den Bedarf bestimmt. Die Zahl der Erkrankten und Verletzten bestimmt die notwendige Zahl der Krankenhäuser, Notaufnahmen und Betten, nicht die Zahl der Betten bestimmt die Zahl der PatientInnen. Die Vorstellung, man könne Krankenhäuser bundesweit nahe einer 100-Prozent-Auslastung betreiben, ist absurd und ignoriert basale Kenntnisse der Infrastrukturplanung. ICEs sind durchschnittlich zu ca. 55 Prozent ausgelastet. Sollen wir 45 Prozent der Wagen stilllegen, damit bei jeder Fahrt jeder Platz belegt ist? Autos haben sogar pro Fahrt nur eine Auslastung von 20 bis 25 Prozent, und obendrein stehen sie 23 von 24 Stunden nur auf dem Parkplatz. Wasserleitungen und die Stromversorgung decken die Nachfragespitzen ab, jahresdurchschnittlich wären demnach Strommaste abzubauen, Wasser- und Klärwerke zu schließen. Auch die räumliche Verteilung von Infrastrukturen ist kein Wünsch-dir-Was, das am Reißbrett entworfen und danach dann gebaut werden kann. Infrastrukturen müssen sich nach den Siedlungsstrukturen und den Verkehrsverbindungen richten.
Die Behauptung, man könne im optimalen Falle mit 337 Kliniken in ganz Deutschland die 30-Minuten-Erreichbarkeit sicherstellen, bedeutet, dass man bei gleichzeitiger Neuerrichtung einiger Standorte auf einen wesentlichen Teil der 1900 bestehenden Kliniken verzichten soll. Dabei wären die Auswirkungen gewaltig, und tatsächlich wurde auf der ganzen Welt aus gutem Grund noch nie mit einer solchen Brutalität Infrastruktur geplant. Das zu zerstörende Bauvolumen würde der Wohnbebauung einer mittleren Großstadt entsprechen. Die meisten der neuen Standorte lägen in schwach besiedelten Gebieten. Die neuen Kliniken wären ausnahmslos Großkliniken, teilweise geradezu gigantische Agglomerationen von Bettenhochhäusern mit 2000 Betten und mehr. Eine Million Beschäftigte müsste umziehen oder weitere Arbeitswege in Kauf nehmen. Und es geht um noch mehr: Große Teile der weiteren Infrastruktur der Daseinsvorsorge müssten ebenso umziehen. Denn wo viele Menschen arbeiten, brauchen sie auch Wohnhäuser, Wasser- und Abwasserleitungen, Straßen und Schienenverkehr, Schulen und Kitas, Müllabfuhr, Behörden, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen und so weiter.
Derartige Allmachtsphantasien müssen scharf zurückgewiesen werden, auch wenn sie im Gewand wissenschaftlicher Studien oder Planspiele daherkommen. Bei Staudammprojekten werden solche massiven Eingriffe zu Recht als Verstöße gegen die Menschenrechte abgelehnt und bekämpft.
>>Es kommen zu viele Menschen unnötig in die Notaufnahmen<<
Niemand nimmt viele Stunden Wartezeit, Ansteckungsgefahren oder das Unterdrücken von Schmerzen in einem vollen Warteraum grundlos auf sich. Man tut das, weil man akut an etwas leidet und Sorge hat, dass die Erkrankung gefährlich ist. Kranke Menschen bedürfen zur Einschätzung ihres Bedarfs an Therapie einer qualifizierten Einschätzung durch eine Ärztin/einen Arzt. Tatsächlich ist nicht in jedem Fall ein anschließender stationärer Aufenthalt erforderlich. Aber Leiden und Erkrankungen verschwinden nicht, wenn die Notaufnahmen verschwinden.
Kapazitäts- und Organisationsprobleme des ambulanten Sektors können nicht durch eine zusätzliche Verknappung des stationären Bereichs gelöst werden. Es gibt an vielen Orten zu wenige niedergelassene ÄrztInnen, oder deren Sprechzeiten sind gemessen am Bedarf zu knapp, zum Quartalsende werden Praxen nicht selten ganz geschlossen. An den Wochenenden gibt es fast überall in Deutschland keine ambulante Versorgung. Außerdem tragen die Notaufnahmen zum Teil auch Lasten, die aus dem Bereich der Wirtschaft kommen. Es gibt eine nicht zu unterschätzende Zahl von Beschäftigten, die erschöpft und ausgebrannt sind, aber befürchten müssen, keine Krankschreibung zu kommen. In ihrer Verzweiflung gehen sie in die Notaufnahme. Den Krankenhäusern ist durch gesetzliche Vorgaben eine strukturierte ambulante Versorgung weitgehend untersagt.
Die „Ambulantisierung“ im Zuge von Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) stellt im Übrigen eine erhebliche Privatisierung dar, sie soll offenbar durch Integrierte Versorgungszentren (IVZs) et cetera forciert werden. Die ambulante Versorgung über niedergelassene Ärzte findet bereits heute im Privatrecht statt, eine Hausarztpraxis ist ein kommerzielles Unternehmen, das an vielen Stellen im Spannungsfeld zwischen finanziellen Interessen und Patientenwohl steht. MVZs sind aber darüber hinaus Kapitalanlagemöglichkeiten, mit ihrer Ausweitung wird der medizinische Bereich noch erheblich stärker finanzialisiert und auf Profit orientiert.
>>Nicht überall, wo „Krankenhaus“ draufsteht, ist auch eines drin<<
Damit wird suggeriert, dass es für Menschen und Regionen besser wäre, es gäbe die betreffenden Krankenhäuser nicht. In anderen Worten: Mehr Menschen würden schneller gesund, weniger Menschen würden sterben, wenn man bestimmte Krankenhäuser schließen würde.
In Kliniken werden Fehler gemacht, es kommt zu falschen Diagnosen und zu Kunstfehlern, Menschen mit leichten Erkrankungen infizieren sich in Krankenhäusern und erkranken schwer oder versterben an im Krankenhaus erworbenen Keimen. Das passiert zunächst ganz unabhängig von der Lage und Größe der Krankenhäuser. Schließt man die kleinen oder die ländlichen oder peripher gelegenen Krankenhäuser, sterben in den verbliebenen Krankenhäusern weiter Menschen infolge von Kunstfehlern und Krankenhauskeimen. Es kommen jedoch noch die Menschen hinzu, die auf dem langen Weg ins Krankenhaus versterben.
Mit der Aussage „nicht überall ist Krankenhaus drin“ werden Krankenhäuser pauschal schlechtgeredet. Man könnte auch sagen, nicht jeder Professor dient der Wissenschaft, und daraus die Forderung ableiten, dass wenigstens 40 Prozent der Dozenturen abgeschafft und sie teilweise durch Internet-Tutorials ersetzt werden müssen. Krankenhäuser sind komplexe Einrichtungen – und menschliche obendrein. Es ist infam, ja verächtlich und respektlos, die Leistung der Menschen, die in einem Krankenhaus arbeiten, derart schlechtzumachen. Es wird dort täglich und nächtlich um Leben und Gesundheit der PatientInnen gekämpft. Und das ist in großem Maße erfolgreich, nicht zuletzt deshalb stieg die Lebenserwartung hierzulande erheblich. Die Behauptung „nicht-überall ist Krankenhaus drin“ ist verleumderisch und würde gegenüber einer einzelnen Ärztin oder einem einzelnen Arzt wohl kaum direkt geäußert werden, denn wer derart an der Qualifikation und den Arbeitsergebnissen einer Medizinerin oder eines Mediziners zweifeln würde, fände sich schnell vor Gericht wieder. Die Aussage gegenüber einer Gruppe von ÄrzInnen, Pflegekräften und Klinikbeschäftigten ist nicht weniger ehrenrührig, aber offenbar schlechter justiziabel. Außerdem: Warum sollten die gleichen ÄrztInnen und Pflegekräfte ihre Arbeit in einem zu schließenden Krankenhaus schlecht machen und in einem anderen gut?
>>Corona hat gezeigt, dass wir selbst für den Pandemiefall zu viele Kliniken und Betten haben – die durchschnittliche Bettenauslastung lag nur bei zwei Prozent, die Intensivbettenauslastung bei vier Prozent<<
So äußerte sich Prof. Dr. med. Reinhard Busse am 1. September im Streitgespräch mit Klaus Emmerich vom Bündnis Klinikrettung. Diese Äußerung eines Regierungsberaters erstaunt. Bestand für das Gesundheitssystem gar keine Gefahr der Überlastung? Dann wäre geboten gewesen, dass Busse sich als Berater – sowohl als Mediziner als auch aus ökonomischer Sicht – scharf gegen all jene Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder ausspricht, die ein „Überlaufen“ der Krankenhäuser verhindern sollten. Denn die Maßnahmen verursachten nicht zuletzt gesundheitliche Schäden an anderer Stelle, angefangen von psychischen Auswirkungen über medizinische Folgen zu lang verschobener Operationen bis hin zu Langzeitfolgen beispielsweise für Herzinfarktpatientinnen, die im Zeittraum der Maßnahmen keine Klinik aufgesucht haben. Dazu kommen große Vermögensschäden bei den Sozialversicherungssystemen und im Staatshaushalt. All diese Schäden wurden in Kauf genommen, weil sie im Verhältnis zu den noch größeren Schäden durch massenhafte Erkrankung bis hin zu befürchteten zehntausenden zusätzlichen Todesopfern als das kleinere Übel angesehen wurden. Von Busse ist keine Kritik an Corona-Maßnahmen bekannt, seine Argumentation wirkt daher selektiv zugunsten seines Hauptanliegens, den Klinikschließungen.
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