Leserbrief von Carl Waßmuth an die Berliner Zeitung, Sa. 25.06.2011
Sehr geehrter Herr Kirnich,
Sie freuen sich in Ihrem Beitrag „Mit Schweizer Präzision“ auf die Ergebnisse der unabhängigen Prüfung des S21-Stresstests. Dem Prüfinstitut SMA stellen Sie beste Noten aus. Ihre LeserInnen bereiten Sie implizit auf die Formel vor: „Stresstest bestanden – Der Bahnhof muss gebaut werden. Wer jetzt noch dagegen ist, ist unbelehrbar.“ Das ist Journalismus, der – pardon- völlig DB-stromlinienförmig ist. Wäre nicht zu fragen wäre: Was genau beinhaltet dieser Stresstest?
„Stresstest“ ist ja alles andere als eine standardisierte technische oder wissenschaftliche Untersuchung, es ist vielmehr ein Begriff, den Heiner Geißler eingeführt hat – und zwar ohne ihn zu definieren. Das bedeutet, dass die DB AG selbst die Regeln festlegen durfte. Und ohne Definition kam der Stresstest dann auch als Bedingung in den sogenannten
„Schlichterspruch“. Das war insofern – anders als Sie schreiben – keineswegs eine Forderung der Gegner des Bahnhofs. Nun sind Sie der Journalist, und deswegen sollten Sie fragen und aufklären: Welche Randbedingungen liegen der Simulation zugrunde, über die sie schreiben? Mit welchen Unsicherheiten sind die verbleibenden Annahmen behaftet? Und vor allem: Welche praktische Relevanz hat diese Simulation für den Bahnhofsbau?
Welche inhaltlichen Fragen könnten denn an den Stresstest gestellt werden, ohne die Leserinnen und Leser mit fachchinesisch zu überfordern? Wie sieht denn heute die Zugfolge in der Rush-Hour aus, kann das um 30% gesteigert, verdichtet werden, oder wird hier eine Auslastung geprüft, die theoretisch mögliche Zugabfahrten zu Tageszeiten prüft, die noch nie nachgefragt wurden? Welche Umsteigezeiten ergeben sich, sind die für die Fahrgäste noch zu bewältigen? Wie wird ermöglicht, dass die anvisierte Zugdichte pro S21-Bahnsteigkante die maximale Zugdichte auf allen anderen DB-Bahnhöfen so frappierend übertrifft? Welchen Aussagewert hat diese Stresstest-Simulation, wenn doch bekannt
ist, dass der existierende Stuttgarter Hauptbahnhof bereits in den sechziger Jahren (und als es noch keine Entlastung durch zusätzliche S-Bahn-Gleise gab) real mehr Züge abwickeln konnte, als jetzt für S21 als Höchstmarke vorgegeben wurde? Letzteres ist ganz einfach den damaligen Fahrplänen zu entnehmen, es wurde eindrucksvoll vom vormaligen Chef des Stuttgarter Hauptbahnhof, Egon Hopfenzitz, im Zuge der Schlichtung live einem Millionenpublikum vorgeführt.
Statt den Inhalten widmen Sie sich der Legitimation der Prüfinstanz. „Experten zweifeln nicht daran, dass die SMA eine unabhängige Expertise erstellen wird.“ Was ist denn die Aufgabenstellung der Prüfung? Dass die DB AG eine Berechnung fehlerfrei durchführt, deren Randbedingungen sie selbst festgelegt hat? Wie unabhängig sind denn ihre anonymen Experten? Die DB AG ist seit 1994 formal privat. Seitdem sind alle Wissenschaftler im Bereich der Fahrplansimulation von der Auftragsvergabe oder der Drittmittelzuwendung der DB AG abhängig. Wer prüft die SMA? Das deutsche Verkehrsministerium? Ein trauriger Witz. Es ist niemand mehr da, der jenseits von SMA und DB AG technisch dergleichen leisten kann, weder von der Software her noch hinsichtlich der Ausbildung der Ingenieurinnen und Ingenieure. Wobei die SMA bezogen auf S21 fundamental davon abhängig sind, die korrekten und vollständigen Eingabedaten für das deutsche Schienennetz bereitgestellt zu bekommen. Sie heben hervor, dass die SMA Eisenbahnunternehmen aus der ganzen Welt als Kunden hat. Bedeutet das, dass die SMA auf die DB AG als Kunden verzichten kann? Das ist mitnichten so! Der Umsatzanteil der DB AG liegt in einem Bereich, der bei einem Auftragsstopp mittelfristig das Ende der SMA bedeuten würde.
Ihr Beitrag wird durch ein Bild illustriert, das eine gleißend weiße 3D-Visualisierung des geplanten unterirdischen Bahnhofs zeigt. Untertitelt ist das Bild mit „noch Simulation“. Bezogen auf den Stresstest verhält es sich damit so: Die Bahn behauptet (mit dieser Visualisierung), es wäre möglich einen unterirdischen Bahnhof so auszuleuchten, dass die Unterseite der Decken heller sind als der wolkenlose Himmel, das selbst Gleisbett und die Schienen weiß strahlen. Die SMA prüft nun: Ist das möglich? Und sie kommen zu dem Ergebnis: Ja. Genau diese Perspektive kann, mit Mehrtausend-Watt-Filmscheinwerfern, nach einer speziellen Vorbereitung der Oberflächen, derart ausgeleuchtet werden. Sie werden verschweigen: Das wird zwar an keinem einzigen Betriebstag so gemacht werden, weil es exorbitant teuer und für alle ausser diesem ausgewählten Standpunkt enorm ungünstig wäre, sei es dass Scheinwerfer blenden oder Fluchtwege versperren. Die Oberflächen verschmutzen sofort und sind zudem gefährlich rutschig. Aber das alles ist ja auch nicht in der Stresstest-Fragestellung enthalten. Deswegen wird attestiert: Ja, so könnte der Bahnhof aussehen! Und diese Antwort ist dann wie die Aussage „Stresstest bestanden“: Nicht nur nutzlos, sondern hochgradig irreführend.