Mit dem Begriff „Infrastruktur“ werden im deutschsprachigen Raum längst nicht mehr nur im Boden befindliche Versorgungsleitungen beschrieben. Unter Infrastruktur subsummiert man mittlerweile nahezu alle langlebigen Grundeinrichtungen einer Volkswirtschaft, die deren arbeitsteiliges Funktionieren garantieren, darunter auch immaterielle wie die Wirtschaftsordnung selbst.
Erschienen in „contraste“, November 2012, von Carl Waßmuth
Die weite Fassung des Begriffs bringt Probleme mit sich. So erfasst das statistische Bundesamt in Deutschland zwar Anlagevermögen, aber nicht bezogen auf Infrastrukturen. Entsprechend ist weder der Wert der Infrastrukturen in Deutschland noch der zugehörige Investitionsbedarf bekannt. Nach Auffassung des Autors handelt es sich bei den materiellen öffentlichen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Schulen und Krankenhäuser, öffentliche Gebäude, Müllentsorgung etc. um Gemeingüter. Infrastrukturen der Daseinsvorsorge wurden mit Steuergeldern und Gebühren der Bevölkerung errichtet, ausgebaut und instand gehalten. Die genannten Infrastrukturen bleiben auch dann Gemeingüter, wenn sie formal und materiell privatisiert werden. Ohne Rohre in der Erde ist heute keine Trinkwasserversorgung mehr möglich, ohne Straßen und Schienen sind Gesellschaften nicht mehr funktionsfähig. Die Infrastrukturen der Daseinsvorsorge stellen Elementares, zumeist Lebens- und Würdenotwendiges zur Verfügung und dienen oft gleichzeitig dem sozialen Ausgleich. Für ihre Errichtung wurde nicht selten mit hohem Blutzoll gekämpft. Nun, da diese Infrastrukturen einen Wert von mehreren Billionen Euro erreicht haben, geraten sie in den Fokus von nach Anlagemöglichkeiten suchendem Kapital:
“Die OECD beziffert den weltweiten Bedarf an Infrastrukturinvestitionen bis zum Jahr 2030 auf mindestens 41 Billionen USD. Pro Jahr entspricht dies rund zwei Billionen USD – dem gegenüber werden jährlich nur rund 1 Billion USD investiert, vorwiegend durch die öffentliche Hand. Angesichts hoch verschuldeter Staatshaushalte zeichnet sich schon heute eine gigantische Finanzierungslücke ab.
Vor diesem Hintergrund gewinnen private Investitionen in Infrastruktur zunehmend an Bedeutung. Public-Private-Partnerships bis hin zu vollständigen Privatisierungen sollen zusätzliches Kapital aktivieren. Infrastruktur entwickelt sich in diesem Umfeld immer mehr zu einer eigenen Anlageklasse für langfristig orientierte Investoren. Ein attraktives Risiko-Rendite-Profil, geringe bis keine Korrelation zu herkömmlichen Anlageklassen, jährliche Ausschüttungen und sogar Schutz gegen Inflation gelten als Vorteile.”1
Mit dem „Einstieg“ von Privaten in öffentliche Infrastrukturen geht es immer nur um ein zeitlich begrenztes Engagement, nie um die Übernahme der echten Verantwortung für Jahrzehnte oder gar länger. Innerhalb des begrenzen Zeitraums werden die über PPPs oder Vollprivatisierungen handelbar gemachten Gemeingüter ausgelaugt. Public-Private-Partnerships (PPPs) bedeuten nicht nur eine versteckte Verschuldung, höhere Kosten, Verlust der demokratischen Kontrolle, Beförderung von Lohndumping, Minderung von Steuereinnahmen und die Erhöhung von Ausgaben für Sozialtransferleistungen. Sie liefern die Infrastruktur der Daseinsvorsorge den internationalen Finanzmärkten für Infrastruktur aus. In den Werbeprospekten für die Anleger pflegt man einen gezielt unaufgeregten Ton:
„’Infrastrukturprojekte sind ziemlich langweilig. Aber sie sind langlebig und normalerweise so strukturiert, dass sie Cash produzieren‘, erklärt Roland Pfeuti bei Clariden Leu Investment Productsals Vermögensverwalter auf den Bereich infrastruktur spezialisiert. ‚Infrastrukturinvestitionen dürfen auch als eine Alternative zum traditionellen Teil eines Portfolios betrachtet werden. […] Der Sektor lockt auch neue Investoren an, so etwa Private-Equity-Firmen. Die Investitionen von Private-Equity-Gesellschaften sind im vergangen Jahr kräftig gestiegen und machen laut Standard&Poor’s die Hälfte aller Transaktionen aus.“2
Tatsächlich besteht die massive Gefahr, dass die Infrastrukturen in ihrer Substanz geschädigt werden. Tritt der Infrastruktur-Kollaps ein, verlassen die Privaten das Feld, die Totalsanierung ist dann wieder Sache der Gesellschaft. Die finanziellen Schäden für die Steuer- und Gebührenzahler übersteigen nicht selten die “klassischen” Formen der Schädigung des Gemeinwesens in Form zu hoher Gebühren und zu geringer Verkaufserlöse. Zu den Kosten für eine Totalsanierung kommen die Schäden, die man erleidet, wenn eine Infrastruktur nicht oder nur noch schlecht funktioniert.
Das Berliner Abwassernetz wird seit der Teilprivatisierung im Schneckentempo erneuert: erst nach 340 Jahren wäre die Infrastruktur einmal komplett ausgetauscht.3 Kommt es zu großen Abwasserrohrbrüchen, kann die Keimbelastung des Berliner Wassers innerhalb von kurzer Zeit auf gesundheitsbelastende Werte steigen. Benachbarte Rohre erleiden nicht vorgesehene Belastungen, neue Risse legen die Sollbruchstelle für den nächsten Rohrbruch. In Lübeck kam es Ende 2010 zu einer Serie von Rohrbrüchen: „Die Stadt befand sich damals wie im Ausnahmezustand: Stadtwerke, Feuerwehr und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein richteten Krisenstäbe ein und erarbeiteten Notfallpläne. Viele Lübecker Bürger besorgten sich Trinkwasser an Tankstellen, die Krankenhäuser bauten eine Notversorgung auf.“4 Rainer Kersten, Geschäftsführer des Steuerzahlerbundes Schleswig- Holstein in Kiel, bezeichnete den Kollaps des Lübecker Wassernetzes als “Warnschuss” für die Netzbetreiber im ganzen Land.
Soll dergleichen vorgebeugt werden, hilft nur, die Institutionen, die Gemeingüter im Namen und mit dem Geld der Bevölkerung verwalten und betreiben, unter demokratische Kontrolle zu holen. Dazu ist es nicht ausreichend, wenn das Eigentum der zugehörigen Infrastrukturen öffentlich ist, öffentlich wird oder öffentlichem Recht folgt. Aber es ist für alles andere die notwendige Voraussetzung.
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1 Fleischhauer, Hoyer & Partner (FHP): Anlageklasse Infrastruktur: Potenziale und Perspektiven. Eine empirische Marktanalyse – Executive Summary. Vorwort, Seite 3. München, 2009
2 Alice Radclife: Zukunft bauen. Infrastruktur als Investition, in: ahead, Investmentmagazin von Clariden Leu, Seite 7, April/Mai 2007, Ausgabe 2, ohne Ortsangabe.
3 DGB Bildungswerk Wilhelm Leuschner, tbs berlin GmbH, inEcom GmbH: Wasser in Berlin, Juni 2011.
4 NDR zu: Wasserrohrbruch in Lübeck, Stand: 13.12.2010, 07:48 Uhr