Von Herbert Storn
Diese mehrfach geäußerte Behauptung von deutschen Regierungsmitgliedern will ich dreifach in Frage stellen. Ich gehe dabei nicht auf Aspekte von Krankheit und Epidemie ein, sondern – skizzenhaft – lediglich auf ökonomische, soziale, juristische und politische Aspekte In wenigen Tagen ist Deutschland von einem zögerlich-abwartenden Staat in einen Notstands-Staat verwandelt worden. Dies geschah vermutlich mit Zustimmung eines überwiegenden Teils der Bevölkerung, weil die Angst vor einer „exponentiellen“ Zunahme von Kranken und damit vor einem Totalbefall der Bevölkerung jede „Gegenmaßnahme“ als zweckdienlich erscheinen lässt, je schneller und je umfassender, desto besser. So wie bei einem Brand zunächst gelöscht werden muss, bevor Ursachen und Versäumnisse diskutiert werden, gerät auch hier das gesamte Ursachen-Wirkungsgefüge für ein bedrohliches Ereignis hautnah nur sehr verhalten und mühsam in die öffentliche Debatte.
Schlussfolgerungen ideologisch eingeengt
Dabei hatte man bereits genügend Vorläufer: vom „Rinderwahnsinn“ alias BSE Anfang der 90er Jahre über Schweine- und Vogelgrippe oder SARS hätten vielfältige Konsequenzen gezogen werden können. Aber bereits bei BSE waren Whistleblower die ersten Opfer. Und Schlussfolgerungen wurde ähnlich wie bei der Finanzkrise ein enges Korsett verpasst, in das sie von Anfang an gezwungen wurden: An der weiteren Privatisierung öffentlicher, dem Gemeinwohl verpflichteter Bereiche sollten keine Abstriche gemacht, die Spitzenposition Deutschlands als Exportüberschuss-Weltmeister durfte keinesfalls gefährdet werden. Dazu gehört aber, was selten erwähnt wird, auch die binnenpolitische Rahmung: billige Reproduktionskosten durch die industrialisierte Landwirtschaft bis hin zu den kriminellen Machenschaften von Wilke-Wurst. Dazu gehört eine Just-in-time-Produktion mit den Reserve-Lagern auf der Autobahn, eine Infrastruktur auf Verschleiß – und zwar bei Investitionen und beim Personal – um mit den eingesparten Kosten den Exportwettlauf zu gewinnen; dann die Ausweitung prekarisierter Arbeit und die Vernachlässigung staatlicher Vorsorge. Zu besichtigen im Gesundheitswesen und bei den Schulen, wo jeweils bereits seit längerem Studierende hilfsweise eingesetzt werden.
Der herbeigeführte staatliche Kontrollverlust
Dem totalen Kontrollstaat, den wir zurzeit haben, ging der weitgehende Kontrollabbau auf Seiten des Staats und der Kommunen voraus. Ein ganz bewusster und beabsichtigter – als Sparpolitik deklarierter – Kontrollabbau, wie sich an Beispielen in Hessen gezeigt hat: Vom Versagen der Lebensmittelkontrolle bei WILKE-Wurst über die mangelnde Kontrolle im Umweltschutz, wie die Grundwasserverseuchung in Erbenheim oder die Werra-Versalzung jüngst gezeigt haben. Man hat in Hessen Steuerfahnder psychiatrisiert, Cum-Ex-Steuerhinterziehungen nicht aufklären wollen. Wirtschaftskriminelle Akte werden regelmäßig als Skandale verniedlicht. Auch der Rechtsstaat steht so in der Gefahr, der neoliberalen Wirtschaftsförderung untergeordnet zu werden. Die CDU in Hessen hatte unter Roland Koch die offizielle Maxime, alles zu privatisieren, was der Staat nicht unbedingt machen muss. Eine Fraktion der Grünen teilt mit der CDU eine gewisse Abneigung gegen staatliche Tätigkeiten und staatliche Vorsorge, weshalb ja auch die Koalition mit der CDU in zwei reichen Bundesländern so gut funktioniert.
Wo bleibt die Solidarität der Vermögenden?
Beide Parteien begünstigen dort, wo sie regieren, faktisch die Vermögensumverteilung von unten nach oben. Während landauf, landab Solidarität gepredigt wird, hört man von der Forderung nach Solidarität der Vermögenden und reichen Erben nichts. Bis jetzt gibt es weder Aufrufe noch gar Gesetzesvorbereitungen für eine Re-Aktivierung der Vermögensteuer oder eine Korrektur der Erbschaftssteuer, um die Schäden der momentanen Krise zu beheben, insbesondere bei denen, welche die ansehnlichen finanziellen Polster nicht haben! Denn eins ist schon jetzt klar: die jetzt verordneten schockähnlichen Maßnahmen werden die soziale Spaltung im Land, in der EU und weltweit nicht verringern, sondern trotz beschlossener milliardenschwerer Staatsgarantien für die Verluste „der Wirtschaft“ vehement vertiefen.
Sich dessen bewusst zu werden und sich die Konsequenzen klarzumachen, ist längst überfällig. Es sind die gern tabuisierten, jedenfalls nicht offen ausgesprochenen Grundansichten politischer Akteure, welche eines umfassenden gesellschaftlichen Diskurses bedürfen.
Der Autor ist Mitglied bei GiB und kritisiert seit langem als GEW-Bezirks- und Landesvorstandsmitglied in Hessen die Privatisierung und Ökonomisierung öffentlicher Aufgaben. In seinem neuen Buch „Germany first! Die heimliche deutsche Agenda“ warnt er vor den negativen Implikationen der Exportüberschuss-Strategie.