Wir trauern um Jürgen Schutte. Der Mitbegründer von Gemeingut in BürgerInnenhand starb am 19. Oktober 2018. Mit ihm haben wir einen echten Freund verloren. Uns verbinden nun noch die vielen schönen Erinnerungen. In Gedanken sind wir auch bei Jürgens Familie, insbesondere bei Frau Dr. Ulrike Faber, bei Michael Schutte und bei Tonia Joppien. Wir dokumentieren nachfolgend Zitate, die uns anlässlich seines Todes zugesandt wurden – Jürgen war als Professor für Germanistik von Literatur begeistert. Außerdem auch persönliche Worte von Menschen, die mit Jürgen gearbeitet, gefeiert und gekämpft haben.
Die Trauerfeier fand statt am Montag, den 12. November 2018 um 10 Uhr auf dem Alten St. Matthäus-Friedhof, Großgörschenstraße 12-14, 10829 Berlin.
Peter Weiss (zitiert auf der Traueranzeige für Jürgen):
…die Bücher waren unsre Verbündeten im Kampf gegen die feindlichen Gewalten.
Als ich Professor Jürgen Schutte in unserer Antiprivatisierungsgruppe bei attac kennengelernt habe, habe ich gerätselt: ist er ein Historiker, ein Politikwissenschaftler, ein Literaturwissenschaftler oder gar ein Ökonom? Er war so versiert und vielseitig und hat die komplexesten ökonomischen Zusammenhänge so gut durchschauen und beschreiben können. Und dabei hat er seine Text, Vorträge und Präsentationen immer mit passenden und dazu noch lustigen Zitaten aus Märchen oder Sagenwelt, aus dem Schatz der literarischen Größen wie Bertolt Brecht oder Peter Weiss bereichert und anschaulicher gemacht. Die Projekte der öffentlich-privaten Partnerschaften analysierte Jürgen mit diesem Hintergrund und machte sie anschaulich mit den Zitaten aus Märchen wie zum Beispiel: „Oh wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“ (wenn ÖPP-Projekte in Kritik geraten und nicht mehr ÖPP heißen sollen).
Laura Valentukeviciute:
Mit seinen zahlreichen Texten, Vorträgen und sogar zwei Theaterstücken hat er sehr viel dazu beigetragen, dass die Nachteile von Privatisierung in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit immer bekannter wurden. Und er hat das als ein äußerst interessanter, kritischer und zugleich angenehmer Mitstreiter in unserem gemeinsam gegründeten Verein Gemeingut in BürgerInnenhand gemacht.
Claus Kittsteiner:
Wir wissen alle, wir Menschen leben zweimal: Erst in der Wirklichkeit, dann in der Erinnerung. Ich habe mich heute an ihn erinnert beim Abspielen der DVD „Flüssiges Berlin“, wo er bei unserem gemeinsamen Theaterstück in der zweiten Phase (Wassertisch-Volksbegehren) auf die Leiter steigt, um das Steigen der Wasseraktien zu symbolisieren.
Francis Scott Fitzgerald, zitiert in : Jorge Semprun, Yves Montand: Das Leben geht weiter.
„Zum Beispiel müsste man begreifen,“ setzte er hinzu, „dass die Dinge hoffnungslos sind, und trotzdem entschlossen sein, sie zu verändern.“ … „Hoffnungslos, aber entschlossen. Illusionslos, aber leidenschaftlich. Da man sowieso sterben muss, kann man genauso gut versuchen, nicht blöd zu sterben. Kann man bis dahin genauso gut aufrecht leben.“
Redebeitrag Carl Waßmuth auf der Trauerfeier von Jürgen am 12.11.2018:
In Erinnerung an Jürgen
Liebe Ulrike, lieber Michael, liebe Angehörigen, liebe Freundinnen und Freunde,
wir erinnern uns heute gemeinsam an Jürgen – Jürgen Schutte.Ich will versuchen dabei mitzuhelfen. Ich kannte Jürgen allerdings weder am besten noch am längsten. Jürgen war ein politisch denkender und handelnder Mensch. Er hat er dem Kampf für das Gemeinwohl, für die schon einmal hart erstrittenen Gemeingütern viel Kraft und Zeit gewidmet.
Ich durfte zehn Jahre lang dabei mit an seiner Seite kämpfen, gemeinsam mit vielen anderen, von denen einige heute auch hier sind. Aus dieser Zeit will ich berichten.Kennengelernt habe ich Jürgen in seinem Einsatz für das Gemeingut „Wasser“. Das Berliner Wasser war privatisiert worden, mit einem Volksbegehren waren viele dabei, es zurückzuerobern. Jürgen war mitten dabei. Es hat dazu auch ein Theaterstück und Lieder geschrieben. In der öffentlichen Aufführung des Theaterstücks trat er selbst als Darsteller auf und repräsentierte den Senat von Berlin. Um zu verdeutlichen, dass die Wasserpreise steigen, stieg er auf eine Leiter und streckte die Arme in die Luft. Der Film „Flüssiges Berlin“ hat Szenen davon festgehalten. Jürgen brachte zuweilen die Gitarre mit und trug uns ein neues Lied direkt vor. Auch zu den Aktionen auf der Straße brachte er schon mal die Gitarre mit. Meine Tochter Liselotte, damals sechs Jahre alt, hat Jürgens Fassung von „Wasser ist zum Waschen da“ zu Hause oft gesungen (das Schlageroriginal aus den 50ern kannte sie gar nicht)
2010 suchten wir zur Gründung unseres Vereins „Gemeingut in BürgerInnenhand“ sieben unbedingt vertrauenswürdige Aktive. Jürgen gehörte dazu. Schnell merkten wir, was für einen Schatz wir in ihm gefunden hatten. Jürgen nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er erarbeitete umfangreiche, messerscharfe Analysen für uns. Er ließ sich für unsere Sache vom Fernsehen interviewen, hielt bundesweit Vorträge. Nach den Vorträgen bat er das Publikum übrigens nicht nur um Fragen und Ergänzungen, sondern auch um „kritische Interventionen“.
Jürgen war phantasievoll und hatte dieses enorme Sprachvermögen und Sprachgefühl. Was benannt werden kann, kann auch gefasst werden. Er hat sein Sprachvermögen in unserem Sinne genutzt und uns wertvolle Namen und Begriffe geschenkt. So haben wir als junger Verein immer damit gerungen, dass unsere zentralen Begriffe „Privatisierung“ und „Öffentlich-Private Partnerschaften“ so abstrakt und unverständlich waren. Jürgen fand Worte, die halfen, das zu übertragen: „Privatisierung hat Gesichter“ stellte er fest, und damit konnten diese Gesichter beschrieben werden. Nachdem der Volksentscheid zum Berliner Wasser gewonnen war, die alten Strukturen aber weiterhin am Werk blieben, fand sich eine Arbeitsgruppe, die sich der Aufklärung der schmutzigen Vorgänge widmen wollte. Jürgen schlug vor, der Gruppe den Namen „Klärwerk“ zu geben. Das war unschlagbar.
Jürgen hatte Erfahrung in der Arbeit mit politischen Gruppen, er wusste, dass Mitstreiterinnen und Mitstreiter immer neu gewonnen und motiviert werden müssen. Ein wichtiger, oft wiederholter Rat von ihm war: Wir müssen die Menschen in Arbeit verwickeln. Das war keine abgehobene Position, die nur für andere galt. Jürgen selbst hat sich von uns immer wieder in Arbeit verwickeln lassen. Vieles davon blieb für die meisten – auch für die meisten von uns – weitgehend unsichtbar.
Jürgen schuf eine neue und umfassende Datenbank zu Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP), unserem Kernthema. Er lud sich dieses enorme Arbeitspensum auf in einer Zeit, als er mit seiner Erkrankung bereits zu kämpfen hatte. Diese Datenbank, von ihm zurückhaltend „Archiv“ genannt, hatte es schnell in sich. Wir konnten damit gegen eine wichtige Werbeinstitution der ÖPP-Lobby antreten. Viele Jahre lang wurden alljährlich die sogenannten ÖPP-Innovationspreise verliehen, in Anwesenheit von Ministern und Bundestagsabgeordneten. So sollte die Privatisierungsform ÖPP Geltung und Legitimation erhalten. Mit Hilfe von Jürgens Daten konnten wir nachweisen, dass -bezogen auf das Finanzvolumen – schon 2013 mehr als die Hälfte der prämierten Projekte gescheitert waren. Ab 2014 wurden wunderbarerweise keine ÖPP-Innovationspreise mehr vergeben. Jürgen hatte in Nacht- und Morgenarbeit am Computer den verlogenen Jubelpreis zur Strecke gebracht.
Mit Jürgen bekamen wir einen neuen Zugang zu Literatur. Oft war es Brecht, dessen Werk er in Bezug zu unserer Arbeit brachte. Wir sollten Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten. Er brachte uns auch mit seiner Arbeit und Leidenschaft für Peter Weiss zusammen. Gemeinsam mit meiner Vorstandskollegin Laura Valentukeviciute las ich auf der Stafettenlesung der „Ästhetik des Widerstands“ zum 100. Geburtstag von Peter Weiss, eine einzigartige Erfahrung.
In einem bemerkenswerten Vortrag griff Jürgen auf die Grimm’schen Märchen zurück. Da zog einer aus, das Fürchten zu lernen. Es war Jürgen selbst, der sich durch Berichte der Rechnungshöfe wühlte: „Unglaublich, dachte ich viele Male, aber gefürchtet habe ich mich keinen Augenblick; denn das Unglaubliche war zugleich das Bekannte.“ Die Privatisierungsindustrie spielte mit uns Hase und Igel – wir sollten in diesem Spiel nicht weiter der Hase sein. Er verglich uns mit dem tapferen Schneiderlein – mit Respekt einflößenden Sprüchen, deren Wirkung wir durch Voraussicht, Geistesgegenwart und List zu verstärken suchen.
Für unsere Arbeit gab er uns immer wieder das Gefühl, das er uns bewundert und wertschätzt, er sagte und schrieb uns das oft auch persönlich. Wie wohltuend war das!
Jürgen hat uns darüber hinaus gelehrt, genau zu sein. Oft war die Rede von der „Einbindung privaten Kapitals in die Daseinsvorsorge“: Jürgen fragte uns: Wer bindet da wen ein? Wird nicht die vielmehr die Daseinsvorsorge eingebunden in die Vorhaben derer, die andere, dem Gemeinwohl antagonistisch gegenüberstehende Interessen haben?
Dabei scheute er auch nicht, uns zu kritisieren. Unsere Argumente, die wir im Sinne des Schneiderleins vortrugen, erkannte er als schwach. Sie waren eben nur rhetorisch und nicht grundsätzlich. Jürgen ließ unsere schwachen Argumente dennoch zu, sie waren ihm nicht überflüssig. „Alle Argumente sind erlaubt und müssen von uns kontinuierlich geübt werden“ sagte er. Aber das Grundsätzliche forderte er eben auch. Und wo es noch nicht vorhanden war, formulierte er es selbst. Er verfasste die politischen Grundsätze unseres Vereins, die seither zur Satzung gehören. Und 2011 machte er sich daran, Grundsätze einer Gemeinwohlökonomie zu entwerfen. Er formulierte 21 Leitlinien für eine Reform unserer öffentlichen Institutionen. Diese Thesen brachte er in den wissenschaftlichen Beirat von attac ein, ein Gremium aus hundert DoktorInnen und ProfessorInnen.
Jürgen tat das alles in der ihm eigenen Bescheidenheit. Was er tat, sah er stets als einen möglichen Beitrag von vielen. Er erbat sich Aufträge, um uns Arbeit abzunehmen. Und er achtete darauf, dass wir auch neben dem politischen Leben Kultur und Genüsse nicht vergaßen. Er lud uns oft zu sich ein, und er kam auch zu den Festen, die wir ausrichteten, wann immer seine Gesundheit es ihm erlaubte.
Lieber Jürgen, danke, dass ich Dich kennenlernen durfte.
Carl Waßmuth, den 12. November 2018