Der rot-rot-grüne Senat in Berlin war fest entschlossen: Ausgehend von den Ergebnissen einer „Markterkundung“ sollten die Wartung und Instandhaltung für 1300 neue Wagen ausgeschrieben werden, und zwar als 30 Jahre lang laufendes ÖPP-Projekt. Zwei Drittel des Betriebs sollten außerdem per Ausschreibung für 15 Jahre privatisiert werden. Für die Privatisierung sollte zudem das Netz in drei Teile zerschlagen und umfangreiche Neubauten (Werkstätten, Überwerfungsbauten, Ausfahrten, Nachtabstellgleise) errichtet werden, bezahlt aus Steuergeldern. Das Gesamtpaket wäre mit einem Volumen von acht Milliarden Euro die größte Privatisierung Berlins und wohl auch Deutschlands des ganzen Jahrzehnts geworden. Aber es kam nicht dazu. Die Ausschreibung wurde nicht gestartet. Die Privatisierung blieb stecken. Wie kam es dazu?
Ganz einfach: Es gab Widerstand. Die Gewerkschaften EVG und ver.di hatten schon vor und während der Markterkundung immer wieder die drohende Zerschlagung kritisiert. Als im Herbst dennoch die Ausschreibung für 2019 angekündigt wurde, kamen neue Akteure hinzu:
Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) und das Bündnis Bahn für Alle richteten eine Pressekonferenz aus, auf der die drohenden Folgen der Privatisierung dargestellt wurden. Risiken wurden erläutert und anhand schon eingetretener Fälle von Insolvenzen oder Betriebsausfällen aus anderen Bundesländern illustriert. Mit der Pressekonferenz begann eine erste heiße Phase der Auseinandersetzung um die S-Bahn-Privatisierung. Eine erste Reaktion erfolgte von der Partei Die Linke Berlin: Eilig wurde vor dem Ende November anstehenden Parteitag eine „FAQ-Liste“ (eine Zusammenstellung angeblich häufig gestellter Fragen) veröffentlicht, welche die Kritik an dem Privatisierungsprojekt zu entkräften suchte. GiB konnte die FAQ innerhalb eines Tages als unzureichend und weitgehend unzutreffend entlarven. Die Erwiderung wurde vor den Toren des Parteitags an die Delegierten verteilt. Drinnen musste sich die Parteiführung rechtfertigen. Ein Ad-hoc-Antrag forderte den Abbruch der Ausschreibung, zwei weitere Anträge versuchten das abzuwenden. Es kam zu einem Beschluss, dessen Forderungen nicht besonders radikal sind, die aber den Koalitionsfrieden zur S-Bahn doch stören könnten.
Eine Woche später äußerten sich die Gewerkschaftsgruppen innerhalb der Regierungsparteien erstmals mit einer gemeinsamen Erklärung: Berliner SPD-AfA, GewerkschaftsGrün Berlin sowie die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft (Linke) kritisieren darin die S-Bahn-Ausschreibung scharf („Keine Zerschlagung der S-Bahn“). Ein paar Tage später veröffentlichten EVG, DGB, BUND und Naturfreunde Berlin eine Kritik an der Ausschreibung: „Der Vergabe-Beschluss des Berliner Senats vom 12.11.2019 ist nach unserer Auffassung nicht geeignet, einen schnellen Ausbau des SPNV voranzubringen.“
In Brandenburg ist die neue Landesregierung erst seit dem 20. November 2019 im Amt, eine rot-schwarz-grüne Koalition der Parteien SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen. Weil etwa zehn Prozent der Strecken der S-Bahn Berlin durch Brandenburg führen, muss Brandenburg der Ausschreibung zustimmen. Das Ressort für Infrastruktur ging an die CDU – die in Berlin in der Opposition ist. Hier scheint man nicht geneigt, die komplexen und strittigen Vorhaben aus Berlin schnell durchzuwinken.
Für den 18. Dezember riefen dann Students for Future, ein Zusammenschluss von StudentInnen von acht Berliner Universitäten und Hochschulen, zu einer Kundgebung vor dem Amtssitz der Verkehrssenatorin Regine Günther auf. Die Initiative, die maßgeblich die Aktionen von Fridays for Future in Berlin mitorganisiert, weist auf den Zusammenhang zwischen der geplanten Privatisierung und einer klimabedrohenden Zerstörung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) hin – ausgerechnet organisiert von einer Senatorin der Grünen. Die EVG schloss sich dem Aufruf an. Etwa hundert Menschen folgten dem Aufruf, darunter auch Beschäftigte der S-Bahn Berlin und GiB-MitstreiterInnen. Die DemonstrantInnen skandierten unter anderem: „Ausschreibung? – Abbrechen!“, „Privatisierung? Woll‘n wir nicht!“
Trotz dieser ersten Erfolge gilt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Auch 2020 kann die S-Bahn-Privatisierung noch gestartet werden. Immerhin aber konnte 2019 gezeigt werden: Widerstand wirkt. Nach dem Anfangserfolg gilt es nun, Privatisierungskritik, Engagement für das Klima und die Kämpfe der Beschäftigten für ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen eng miteinander zu verknüpfen. Die S-Bahn muss besser werden, nicht schlechter, sie ist ein Kernstück des Berliner ÖPNV. In Berlin rückt die nächste Wahl des Abgeordnetenhauses heran. Keine der drei aktuell regierenden Parteien kann damit rechnen, mit Privatisierungen Stimmen zu gewinnen. Von daher ist jede weitere Verschiebung der vom Senat geplanten Ausschreibungen zur S-Bahn-Privatisierung ein wichtiger Schritt zur endgültigen Verhinderung.